Gesprochene Filme "Films parlés": Stellen sie sich vor, sie sehen einen Film für blinde Menschen. Die Dialoge der handelnden Figuren hören Sie genauso wie der Blinde neben ihnen, dem aber die Szenen erklärt werden müssen und was die Figuren gerade tun.
Vor Augen habe ich noch einen anderen Film, Jenseits der Stille, und darin die Szene, wie die 11jährige Tochter dem gehörlosen Vater sprechend und mit ihren Händen erzählt, wie das klingt, wenn der Schnee draußen fällt. Nun, der Schnee klingt nur, wenn er vom Dach rutscht oder unter den Füßen knirscht.
Es ist Winter in Finnland, dem Land mit kurzen Sommern und strengen Wintern. Schnee und Eis herrschen vor. Doch die Ruhe trügt, auch wenn „keine menschlichen Stimmen, kein Lärm, keine Schritte“ zu hören sind und „an diesem kalten stillen Wintertag alles eintönig und verschlafen scheint.“
Es ist das Jahr 1919, denn es ist 15 Jahre her, seit Irène Némirovsky 1934 in Paris den letzten Punkt unter die Novelle im Rausch des Weins setzte. Im Osten ist Revolution ausgebrochen, davon ist auch Finnland betroffen und in einer kleinen Stadt patrouillieren Milizen, Soldaten, Matrosen. Die Bürger haben Türen und Fenster nicht nur wegen der Kälte fest verschlossen. In einigen Häusern wurden Offiziere versteckt, die ehemals in der russisch-zaristischen Armee dienten. Dies tat auch Aino mit ihrem Bruder Ivar, ihr Ehemann, Professor Krohn, ahnt davon bisher nichts.
In einer einzigen Nacht bricht das Inferno herein, verlassene Paläste und Bürgerhäuser werden gestürmt, Plünderungen geschehen und vor allem haben es die Massen (oder der Mob, wenn sie es so sehen wollen) auf die Weinkeller abgesehen... Bald sind alle im Rausch, das geht nicht ohne Tote ab, Wein, Champagner, Wodka fließen in Strömen und Ivar muss endlich mal raus aus seinem Versteck. Keiner hört auf die Ermahnungen der „Revolutionäre“, die zwar zum Plündern aufrufen aber gleichzeitig Prohibition predigen.
Zwei Geschichten der jüdisch-ukrainischen Autorin, die 1903 in Kiew geboren wurde und 1942 im Konzentrationslager Auschwitz starb, hat der Input Verlag im Band 15 der Reihe Perlen der Literatur aufgenommen. Wenn diese Reihe, die schon so oft in unserem Blog besprochen wurde, Texte veröffentlicht, die „zeitweise sehr erfolgreich waren oder sprachliche Besonderheiten aufweisen“, dann sind die „gesprochenen Filme“ sicherlich wert, in der Reihe aufgenommen zu werden.
Die andere Geschichte handelt von Ida Sconin, einem einst gefeierten Star ("niemand auf der Welt trägt die Federkappe mit Gold und Perlen wie sie") am Revue – Himmel von Paris. Singen und Tanzen sind ihr, waren ihr bis ins „hohe“ Alter, Sinn und Lebensinhalt, doch nun drücken die jungen Konkurrentinnen nach und auch das Publikum giert nach neuem. Sieht sich Aino in der obigen Geschichte dem plündernden Mob gegenüber, blickt Ida am Ende ihrer Geschichte in johlendes pfeifendes, ablehnendes Publikum.
„Beide Novellen leben von Dialogen, intensiven Beobachtungen, sachlich notierten Verhaltensweisen und geben gelegentlich Anweisungen an die Bühne.“ schreibt Cordula Scheel im Vorwort des Bandes. Es sind zwei Frauen, die im Mittelpunkt stehen, wobei Aino eher unscheinbar, Ida jedoch grell und fordernd auftritt. Eine Alternative hat Ida nicht, sie muss auf die Bühne und sei es das letzte Mal und immer wieder das letzte Mal.
Irène Némirovsky hat beides gesehen. Die revolutionären Unruhen hat sie erlebt, als sie mit ihrer „großbürgerlichen, jüdischen Familie“ über Finnland und Schweden nach Paries flieht und dort natürlich die Kunsttempel der Stadt besucht. Die oben angedeuteten Verhältnisse nimmt sie als Hintergrund für das Schicksal ihrer zwei Frauengestalten. Nach Cordula Scheel stellt sich die Autorin unter anderen drei Fragen:
„Ist es möglich, die Augen zu verschließen und unberührt weiterzuleben wie bisher? Kann der Einzelne, der guten Willens ist, sich dem Rausch der Gewalt entziehen, wenn er hineingerät? Oder ähnelt eine Menschenmenge außer Rand und Band eher einem Feuersturm, der den Unvorsichtigen in die Flammen hinzieht?“ (Vorwort, S. 6)
Es wird der Leserin oder dem Leser vielleicht am Ende klar, dass die Fragen für beide Geschehnisse gelten, für die Gewalt im Rausch des Weins wie für das hässliche Publikum. In beiden Fällen kann man sich gut in der Masse verstecken und mitmachen. Heute findet sich das in vielen Kommentaren unter diversen Beiträgen in Kanälen, die man „Social Media“ nennt.
Autoren haben früher, damit meine ich die Zeit bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts und ein wenig darüber hinaus, anderes geschrieben als heute. Sie haben mehr an Szenen, Farben, Landschaft, Städten beschrieben, mit einer ungewohnt hohen Anzahl von Adjektiven und Adverbien; heute muss so schnell wie möglich die eigentliche Handlung beginnen. Vielleicht deshalb hat der Input-Verlag einem jeden Buch ein informatives Vorwort beigegeben, was bei der Einordnung bisher immer hilfreich war.
Außerdem hat es der Verleger, Ralf Plenz, mit bibliophilen Kostbarkeiten und so stellt er hier die leicht ramponierte französische Ausgabe der „gesprochenen Filme“ vor. Diese hier muss noch „aufgeschnitten“ oder „aufgerissen“ werden, der Besitzer kann sich später für einen individuellen Einband bei einer Buchbinderei entscheiden. (Gibt es das heute noch?)
Auf der Verlagsseite wird gefragt, ob „ich“ bereits und welche Novelle mir mehr zusagte. Das ist leicht zu beantworten. Was das Geschriebene angeht, so würde ich das bejahen und auf die eben erwähnte Schreibweise früherer Autoren verweisen.
Im Rausch des Weins hat mir hinsichtlich der „gesprochenen Filme“ mehr zugesagt, denn der Text oben ging mir diesbezüglich gleich auf. Dies empfand ich bei Ida weniger, obwohl ich die "Chorus Line" mit den schmal bekleideten Tänzerinnen und den langen Beinen vor mir sah.
Es war wiederum ein ausgesprochenes Leseerlebnis, welches mir außerhalb der inzwischen umfangreich besprochenen Perlen der Literatur eher nicht begegnet wäre. Daher danke ich wiederum dem Verleger für das Rezensionsexemplar.
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Die "Perlenreihe" - Meine Rezensionen:
Proserpina (Elisabeth Langgässer) / Seefahrt ist not! (Gorch Fock) / Einbahnstraße (Walter Benjamin) /
Kleine Stadt (Heinrich Mann) / Palmström... (Christian Morgenstern) / Die Weihnachtsuhr (Antje Thietz-Bartram) / Forschungen eines Hundes (Franz Kafka) / Das Fenster zum Sommer (Hannelore Valencak) / Bezaubernder April (Elisabeth von Arnim) / Eine blassblaue Frauenschrift (Franz Werfel) / Sterben (Arthur Schnitzler)
- DNB / Input - Verlag / Hamburg, 2.2023 / ISBN: 978-3-941905-49-8 / 159 Seiten
- Irène Némirovsky - Wikipedia
© Bücherjunge
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